Aus eigener Betroffenheit heraus fing ich vor Jahren an, Betroffenen und Ratsuchenden mein Wissen weiter zu vermitteln. Es wurde sehr bald klar, dass die Selbsthilfegruppe für viele nicht das richtige Forum war, da sie hauptsächlich neben Verständnis nach sachlichen Informationen suchten, die den Rahmen einer Gruppe sprengt. So entstand vor einem Jahr die erste öffentliche ehrenamtliche AD(H)S-Beratungsstelle in Berlin.
Dieser Artikel möchte anhand einer wahren Lebensgeschichte das Innenleben Betroffener aufzeigen mit dem Ziel, Ärzten und Therapeuten einen Einblick in die Gedankenwelt und den permanenten Kampf eines ADSlers zu geben.
Es wurde ein gesundes Mädchen geboren. Es war von Anfang an sehr lebhaft, aufgeschlossen und andersartig, aber nicht so auffällig, dass jemand auf die Idee kam, es könnte sich ein neurobiologisches Problem dahinter verbergen. Viele waren von der "Kleinen" angetan...sie hatte das gewisse Etwas...
Dieses Mädchen fühlte sich aber immer anders als die anderen, wollte einerseits so sein wie sie, um dazu zu gehören und andererseits war sie stolz anders zu sein. Sie musste um jede Freundschaft und Anerkennung kämpfen, denn sie war für die Menschen um sie herum anstrengend, da sie eine geringe Anpassungsfähigkeit besaß, alles hinterfragte und hartnäckig ihre persönlichen Ideen und zeitnahen Ziele verfolgte.
Sie war sehr reizoffen, emotional, impulsiv, sprunghaft und hatte nie echte und altersgerechte Freundinnen und kontrollierte und gängelte ihre jüngeren Brüder bis diese alt genug waren sich gemeinsam zu wehren. Oft fühlte sie sich allein und unverstanden. Als Jugendliche befasste sie sich mit dem Altwerden und dem Tod, während die anderen Mädchen nur Unfug im Kopf hatten. Sie konnte anderen gut zuhören, sich in sie hinein fühlen, Ratschläge geben, aber sich selber spürte sie nicht. Zu Hause herrschte das Chaos und sie übernahm viel zu früh Verantwortung für die Brüder und den unordentlichen Haushalt, da sie "Expertin" in Sachen Ordnung war.
Im Kindergarten, Schule, Ausbildungsplatz, Berufsschule wurde immer wieder die Mutter hin zitiert. Die Gymnasialempfehlung war da, scheiterte an der Aufnahme- und Umsetzungsfähigkeit schon im ersten halben Jahr, so dass sie die Realschule mit Höhen und Tiefen zum Abschluss brachte. Es wurde - auch oft in ihrem Beisein - über sie geredet, wie schwierig sie sei, und dass sie sich verändern müsse, wenn sie in der Gesellschaft zurecht kommen wolle.
Es zerriss sie innerlich, denn sie wollte nicht auffallen und nimmt sich zum x-ten Mal vor sich zu ändern. Die Kraft in ihr, die sie trieb, zu tun was sie tat, war stärker als alle guten Vorsätze. Unendlich viele Tränen wurden über die Jahre vergossen, aber am nächsten Tag stand sie wieder voller Elan da, das innere Stehaufaufmännchen gab ihr Kraft, im hier und jetzt unverdrossen weiter zu gehen.
Der Selbstwert sank bis "in den Keller" und wurde überspielt durch ihre extrovertierte Art, große Hilfsbereitschaft, Vielseitigkeit, Witz, ihre Allroundtalente sowie fachlich erworbenen Qualitäten. Im Beruf fand sie Bestätigung und Anerkennung für ihre ausgezeichnete Art und Weise, wie sie ihre Arbeit bewältigte, aber wurde gleichzeitig "klein" gemacht, weil sie nicht in der Lage war, sich in eine soziale Gemeinschaft einzufügen. So wechselte sie immer wieder den Arbeitsplatz, wenn ihr der alte nicht mehr spannend genug war und zerrüttet war, denn sie litt innerlich unendlich darunter. Sie sehnte sich danach, sich bei jemanden anlehnen zu können. Sie suchte sich aber Partner aus, die ihr unterlegen waren, deren Leben sie ordnete und wenn ihr Leben geordnet war und sie anfingen, sich zu wehren, hat sie sie verlassen. Beruflich war sie erfolgreich, weil sie ihre beruflichen Qualitäten so überzeugend darbieten konnte, dass sie auch über den Durchschnitt bezahlt wurde.
Der letzte selbst wegen einer sehr gut bezahlten und herausfordernden Arbeitsstelle in einer großen Stadt war eine große Umstellung für das "Dorfkind", denn die Vielfalt erschlug sie fast. Dann kam es zu einer ungeplanten Schwangerschaft. Sie freute sich sehr darauf, musste aber kurz nach der Geburt ihr Kind allein erziehen, weil der Vater nicht in der Lage war, Verantwortung für sich und die Familie zu übernehmen.
Seither fühlte sie sich chronisch überfordert, dekompensierte, verlor zunehmend an Elan und Kraft. Die chronischen körperlichen Beschwerden wie Gastritis, Migräne, Rücken- und Gliederschmerzen nahmen zu. In Gesellschaft war alles wie "weggeblasen" und keiner glaubte ihr, wenn sie über ihre Befindlichkeiten sprach, da man es ihr nicht ansah (typisches Phänomen bei ADS-Betroffenen). Die lebenslange Ein- und Durchschlafproblematik sowie die schnelle Erschöpfbarkeit nach Tätigkeiten wurden immer mehr zum Problem: die aktive Zeit über den Tag wurde immer kürzer, die Tagesmüdigkeit manifestierte sich mehr und mehr, der Antrieb stürzte zunehmend ab, so dass auch der Haushalt und der Alltag anfingen zu leiden. Auf der letzten Arbeitsstelle, die inzwischen "nur" noch eine ABM-Stelle war, fehlte sie innerhalb von einem Jahr zu 50%. Depressionen wurden sichtbar, die der Behandlung bedurften. Eine anstehende Rehabilitation rettete sie vor dem gänzlichen Zusammenbruch.
Kurz vorher kam die Diagnose ADHS in ihr Leben. Das war für sie der Schlüssel des Verstehens über die Reaktionen und Verhaltensweisen anderer und die mangelnde Reflektionsfähigkeit über sich selber. Die Zeit war sehr schwer für sie, weil ihr klar wurde, was ihr im Leben versagt blieb. Neben dem stark erschütterten Selbstwert und dem Erkennen der Unfähigkeiten kam noch der Kampf, sich die Diagnose nicht wieder nehmen zu lassen ("Modediagnose", "das hat doch jeder mal"). Sie wurde aber auch mit Unverständnis und Vorurteile anderer konfrontiert, musste für den Sohn kämpfen, dass er adäquate Hilfe bekommt, die Anfeindungen, dass sie und ihr Sohn "Psychomittel" nehmen und die gut gemeinten Ratschläge, wie sie ihr Leben wieder in den Griff bekommt. Wie in vielen Familien, wo AD(H)S vorhanden ist, wird häufig mit besonderer Skepsis reagiert. So empörte sich auch ihre Mutter und der Kontakt brach ganz ab.
Es wurde auch immer deutlicher, dass keine der Personen wie Lehrer, Jugendamt, ärzte, Therapeuten, Versicherungsanstalt, Arbeitsamt etc., die mit ihr oder ihrem Sohn zu tun hatten, die wirklichen Konsequenzen nachvollziehen konnten, wie z.B. die eingeschränkten Kräfte, den Alltag wie Haushalt und Kindererziehung zu bewerkstelligen. So begann ein erneuter Kampf, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen, warum sie außer Stande ist, auch noch für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen oder den Sohn bei den Defiziten in der Schule zu unterstützen.
Sie hat zwangsweise über die Jahre mit viel Ehrgeiz und Hartnäckigkeit in ihrem Umfeld Aufklärung betrieben, trotz ängsten und Vorbehalten Hilfen vom Jugendamt angenommen, so dass sie für sich einen gangbaren Weg gefunden hat. Seither geht es kontinuierlich aufwärts, auch wenn der Weg anders aussieht als sie und die Behörden, ämter und behandelnden ärzte dachten.
Diese Geschichte, die auch in ihrer Dramatik kein Einzelfall ist - wie sich in vielen Gesprächen mit Betroffenen in der Beratungsstelle bestätigt hat - zeigt, dass es ein wichtiger Bestandteil sein sollte, dass Betroffene und Fachleute ins Gespräch kommen, um die ganze Problematik eines Betroffenen mit einbeziehen zu können und sich nicht durch äußerlichkeiten wie Intelligenz ablenken zu lassen. Es steht noch wenig Wissen zur Verfügung, was die wirklichen Bedürfnisse der jeweiligen AD(H)S-Person ist. Sicher sind klare Vorgaben zur Behandlung und Therapie von Nöten, aber bei AD(H)S-Betroffenen wird das individuelle Herangehen ein unabdingbar Teil der Behandlung sein. ADS'lern ist nur erfolgreich zu helfen, wenn eine Affinität zu dieser Klientel vorhanden ist, ansonsten wird es scheitern oder dem Betroffenen nicht viel helfen.
Bereits bewährte Hilfen wie Medikamente, Coaching, Verhaltenstherapie mit Rücksicht auf AD(H)S, Hilfen vor Ort (wie Papierkram ordnen, stundenweise Hilfe im Haushalt) können bis jetzt fast ausschließlich NUR auf eigene Rechnung in Anspruch genommen werden, sofern der Betroffene soweit ist, sich helfen zu lassen, Scham überwunden hat und jemanden findet, der sich inzwischen spezialisiert hat. Ein großer Teil derer, die die Beratungsstelle aufsuchten, haben aber oft nicht die Finanzen und/oder das Durchhaltevermögen.
Bei vielen ist die erste Therapie die bedingungslose Annahme ihrer Person und das Herausfinden und Hervorheben ihrer Stärken, Neigungen und Fähigkeiten. Für die Andersartigkeit und für andere anstrengend zu wirken, haben sie sich nicht ausgesucht, im Gegenteil: sie leiden selber enorm darunter.
Deshalb mein Anliegen: Sehen Sie sie nicht als Verlierer, Versager und anstrengende, nervende Person, sondern sehen Sie dahinter den Sonnenschein, Unbekümmertheit, Freundlichkeit, die Gaben und Fähigkeiten.
Cornelia Wright
Ehrenamtliche AD(H)S-Beratungsstelle Berlin
c/o Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V.
Holsteinische Str. 30
12161 Berlin
eMail: adhs-beratung.cw-berlin@web.de